Geschichte des Instituts für Agrar- und Ernährungswissenschaften
Hallenser Tradition
Die Stadt Halle an der Saale ist mit ihrer bis ins 9. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte eine der ältesten Städte im mitteldeutschen Raum. Die Lage im Kreuzungsbereich vieler Fernhandelsstraßen, die Siedesalzproduktion und der Handel mit dem „Weißen Gold“ brachten der Stadt Ansehen und Reichtum. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt einsetzende Industrialisierung ließ Halle schnell zu einer Großstadt werden. Heute ist Halle die größte Stadt Sachsen-Anhalts und ein Zentrum der Industrie, Wissenschaft, Bildung und Kultur. Der Werdegang der Stadt ist eng mit der Geschichte ihrer Universität verbunden.
Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ist eine Lehr- und Forschungsstätte in der Tradition zweier berühmter europäischer Universitäten, der sächsischen Universität Wittenberg und der preußischen Universität Halle. Die Universität Wittenberg wurde als Leucorea durch Kurfürst Friedrich den Weisen von Sachsen im Jahre 1502 gegründet und erlangte als Zentrum der Reformation hohes Ansehen. Die Universität Halle entstand 1694 als Friedrichs-Universität unter dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. Sie entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem Zentrum der Frühaufklärung. Im Jahre 1817 wurden die beiden Universitäten zur „Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg“ zusammengelegt. Im Zuge der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Universitäten, der Entlassung jüdischer Wissenschaftler und des Rückgriffs auf Luther für die antisemitische und nationalistische Propaganda des NS-Staates erfolgte am 10. November 1933 die Umbenennung in Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Das Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften (IAEW) in Halle kann auf eine über 150-jährige Tradition und Reputation als Ausbildungs- und Forschungsstätte zurückblicken. Der Aufbau der universitären Agrarwissenschaften begann mit Julius Kühn, der 1862 zum ersten ordentlichen Professor für Landwirtschaft ernannt wurde. Julius Kühn gelang es, durch Berufung profilierter Hochschullehrer ein leistungsstarkes Landwirtschaftliches Institut in Halle zu errichten und die Strukturen des Landwirtschaftsstudiums den neuen Anforderungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen. Durch Ankauf von Land konnte Julius Kühn eine universitätseigene Versuchsstation in der Nähe der Ausbildungsstätte einrichten. Das nach ihm benannte „Kühnfeld“ ist auch heute noch Standort des international bekannten Dauerfeldversuchs „Ewiger Roggenbau“ sowie einer von zwei Standorten des Feldversuchswesens am IAEW.
Im Jahre 1920 wurde das Landwirtschaftliche Institut durch die Gründung von fünf selbstständigen Instituten reorganisiert, die ab 1923 Teil der neu gegründeten Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät wurden. Die Entwicklung der Agrarwissenschaften in Halle von 1920 bis 1950 wurde maßgeblich durch Theodor Roemer geprägt, der ab 1919 den Lehrstuhl für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung innehatte und eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Züchtungsforschung war. Zwischen seiner Berufung und seinem Tod im Jahr 1951 entstanden an seinem Institut nicht nur circa 750 wissenschaftliche Publikationen, sondern aus seiner Züchtungsarbeit gingen auch über 20 neue Getreidesorten hervor, die in den großflächigen Anbau gelangten. Vor diesem Hintergrund wurde 1943 der Theodor-Roemer-Preis gestiftet, der 1947 in der DDR wiederbelebt und, nach einer kurzen Unterbrechung, ab 1994 weitergeführt wurde. Wegen seiner Rolle im Nationalsozialismus wurde Roemers Eignung als Vorbild und Namensgeber für eine wissenschaftliche Auszeichnung intensiv hinterfragt und im Jahr 2022 wurde die Vergabe des Preises eingestellt. Neben Roemers Mitgliedschaft im Stahlhelm (1932), seiner Fördermitgliedschaft in der SS (ab 1934) und seinem NSDAP-Beitritt (1937) ist vor allem seine Reise in die Ukraine im Herbst 1941 zu erwähnen. Diese hatte er im Auftrag von Herbert Backe unternommen, um Anbaupläne für die besetzten ukrainischen Gebiete zu erarbeiten. Backe, Staatssekretär im Reichsernährungsministerium, gehörte zu den Initiatoren des sog. „Hungerplans“, der vorsah, in der Sowjetunion Millionen Menschen im Interesse der Versorgung Deutschlands verhungern zu lassen. Die Reise führte Roemer in eine Vielzahl von Städten, in denen es während oder kurz vor seiner Anwesenheit zu Massenmorden an Juden gekommen war (vgl. Wagner 2025).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Jahr 1947 die Agrarwissenschaften an der Martin-Luther-Universität als eigenständige Landwirtschaftliche Fakultät etabliert. Ihr erster Dekan war der weltbekannte Genetiker Hans Stubbe. Die fortschreitende Spezialisierung von Wissenschaft und Studium drückte sich in der Gründung neuer Institute aus.
Im Jahre 1968 traten in der DDR an die Stelle der landwirtschaftlichen Fakultäten „Sektionen“ mit einem spezialisierten wissenschaftlichen Profil. In Halle nahm die Sektion Pflanzenproduktion mit acht Wissenschaftsbereichen ihre Arbeit auf. Die Rolle der landwirtschaftlichen Fakultät wurde auf die Mitwirkung im sog. Wissenschaftlichen Rat begrenzt, der als übergeordnetes Gremium für Fragen des Studiums, der Forschung und der Graduierung zuständig war.
Nach der Wiedervereinigung und der Umstrukturierung der Universität wurde die Landwirtschaftliche Fakultät am 1. April 1991 neu gegründet. Damit konnten auch die Nutztierwissenschaften ihre Arbeit wieder in Halle aufnehmen. Neben dem Diplomstudiengang Agrarwissenschaften wurde ein Studiengang „Bodenschutz und Landschaftsgestaltung“ aufgebaut. Auch die Berufungsgebiete wurden neu festgelegt. Im Jahr 1998 wurde zusätzlich der Diplomstudiengang Ernährungswissenschaften etabliert.
Im Oktober 2006 wurden die Agrar- und Ernährungswissenschaften als Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften (IAEW) in die Naturwissenschaftliche Fakultät III eingegliedert, zu der auch die Geowissenschaften und die Informatik gehören. Im Zuge des Bologna-Prozesses wurden die Studiengänge auf das Bachelor-Master-System umgestellt. Seitdem werden die Studiengänge Bachelor Agrarwissenschaften und Bachelor Ernährungswissenschaften angeboten. Drei Jahre später wurde erstmals in die Masterstudiengänge Agrarwissenschaften, Nutzpflanzenwissenschaften und Ernährungswissenschaften immatrikuliert. Gemeinsam mit dem Institut für Geowissenschaften und Geographie wird zudem seit 2006 der Studiengang Management Natürlicher Ressourcen angeboten (Bachelor seit 2006 und Master seit 2009).
Aktuell umfasst das IAEW insgesamt 17 Professuren aus den Ernährungswissenschaften sowie den Bereichen Pflanzenwissenschaften, Tierwissenschaften, Bodenkunde und Agrarökonomie. Gemeinsam ermöglichen sie die Ausbildung in fünf originären Studiengängen, B.Sc. und M.Sc. Ernährungswissenschaften, B.Sc. und M.Sc. Agrarwissenschaften und M.Sc. Nutzpflanzenwissenschaften sowie dem institutsübergreifend angebotenen B.Sc. und M.Sc. Management Natürlicher Ressourcen. Unterstützung in Forschung und Lehre erhält das IAEW durch gemeinsam berufene Professoren aus dem Leibniz-Institut für Pflanzengentechnik und Kulturpflanzenforschung (IPK), dem Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) und dem Umweltforschungszentrum (UFZ).
Die ausgeprägte Interdisziplinarität der Agrar- und Ernährungswissenschaften sowie die Verbindung von Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung spiegeln sich nicht nur in der Struktur, sondern auch in der Forschung des Instituts wider. Von Einzelprojekten bis zu überregionalen Verbundprojekten wird eine große Bandbreite gesellschafts-, wirtschafts- und umweltrelevanter Fragestellungen adressiert, um die Wissensgrundlagen für eine erfolgreiche Transformation der Agrar- und Ernährungswirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit und effizienter Ressourcennutzung bereitzustellen.
Patrick Wagner, Professor für Zeitgeschichte, MLU (2025): Einordnung von Theodor Roemer
Patrick-Wagner(2025)-zu-Theodor Roemer.pdf
(282,1 KB) vom 18.03.2025